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Freitag, 12. Mai 2017

Pferde


Ich war beim Amtsgericht wegen dem Antrag auf einen Erbschein: es war eine existenzielle Erfahrung.
Am Eingang musste ich durch eine Sicherheitsschleuse wie im Flughafen, mein Rucksack wurde komplett auseinandergenommen, sogar in mein Portemonaie schaute man.
Dann landete ich in einem verstaubten Büro, in dem sich in furchtbarer Schieflage die Aktenberge stapelten und ein Beamter mich staunend betrachtete.
"Sind Sie mit dem Fahrrad gekommen?" fragte er und deutete auf meinen Rucksack.
War ich nicht. Er brauchte eine Zeit, um diese Information zu verarbeiten. Unter seinem Schreibtisch standen Sandalen mit Massagenoppen, auf einer Reihe Aktenordner lag ein Apfel, an den Wänden hing ein stimmungsvolles Gemälde mit Blumen in klobigem Rahmen, was er mit Sicherheit von seiner Oma geerbt hatte.
Er hatte die Akte vor sich, die man ihm aus L. geschickt hatte und blätterte unschlüssig eine Weile darin herum.
"Also", sagte er schließlich, "was die uns hier geschickt haben..." Er rieb sich lange den Kopf und schaute mich anklagend an: "Da steht ja gar nichts drin."
Er blätterte hin und her.  "Also, wir hier in Bayern, wir sind da..." Er überlegte, tastete sein Gehirn ab nach dem richtigen Wort und fand es: "... professioneller."
Er sah mich erwartungsvoll an. Diplomatisch nickte ich, auch wenn es mich einige Kraft kostete.
"Wo ist das überhaupt - L.? In Niedersachsen?" Er betrachtete misstrauisch das Bild des Wappens auf der Akte von dem Gericht aus L.
"Nein", sagte ich, "Nordrhein-Westfalen."
"Was?" Er war verblüfft. "Haben die denn auch ein Pferd im Wappen?"
Lange taxierte er das Wappen, blätterte hin und zurück - überall das gleiche Wappen drauf. Mit einem Pferd. Er rieb sich den Kopf.
So ging es dahin. Wir brauchten fast eine Stunde, um das Schriftstück aufzusetzen. Einige Zeit verloren wir, weil er die Blätter zusammenklammern wollte, aber die Heftklammern alle waren. Er fand nach einer Weile dann eine Schachtel mit Ersatz, aber dann klemmte die Schublade, als er sie schließen wollte. Dann musste er alles nochmal ausdrucken und klammern, weil er wesentliche Dinge genau falsch eingetragen hatte.
Dann wollte er mir, trotz meines heftigen Abwinkens, unbedingt zeigen, wie ein europäischer Erbschein aussieht im Vergleich zu dem einfachen deutschen, wozu er mitten in einen der schiefen Aktenberge griff und - ohne einen Sturz zu verursachen - einige Akten herausgriff und mit Andacht durchblätterte, bis er auf das gesuchte Papier stieß.
"Dreizehn Seiten", staunte er mit Schaudern und ich schauderte mit. Ich konnte ihn daran hindern, mir die dreizehn Seiten vorzutragen, ich durfte aber von Ferne einen Blick darauf werden. Schließlich rang er sich dazu durch, die Akte zu schließen und sie zurückzustoßen, in den Stapel.
Eine Zwischenkrise bahnte sich an, als er meinte, er bräuchte noch die Versicherung meines Bruders, dass er das Erbe antreten wolle. Ich beugte mich vor, blätterte in der Akte und deutete auf ein Schreiben von H.: "Ist es nicht das hier?"
Er rieb sich lange den Kopf und betrachtete staunend das Schreiben. Dann sah er mich erschüttert an: "Tatsächlich, das ist es." Vorsichtig betastete er den Brief und schaute, ob auf der Rückseite auch was stand. Leer. Er rieb sich den Kopf.
Einen Höhepunkt erreichte unser Treffen, als er mir das ganze Schreiben, dass ich ausgedruckt und geklammert vor mir liegen hatte, laut vorlas und die Adresse meines Bruders nun in Englisch vortrug. Triumphierend rief er dann sogar die Postleitzahl mit allerschönstem "th" aus: "Seven-thousand-five!"
Ich senkte ergriffen den Kopf. Die Schluffis aus NRW, die können was lernen von den Profis aus Bayern, das ist mal klar. Die haben Löwen im Wappen.




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