Sonntag, 25. Dezember 2016

Engel

Gestern ein Weihnachtsessen bei K.. Sie begrüßte uns mit Champagner, R. zeigte sich verantwortlich für den Braten (und war dieser Aufgabe mehr als gewachsen) und sein holländischer Freund G. ließ von seiner Frau holländische Schnäpse und Schokolade nach Deutschland einführen. Also: für alles war aufs Beste gesorgt.
Aber das Schönste war der Engel, der die Spitze des Weihnachtsbaumes schmückte:


In Sachen Engel sind wir hier unschlagbar. Wer so einen Engel in der Nähe hat, was soll dem noch passieren?

Unsere Aufgabe war, kleine Lieblingstexte oder - gedichte zu lesen. Ich las von W.G. Sebald,  "Austerlitz":
Es war mehrere Monate nach diesem Zusammentreffen in Lüttich, daß ich Austerlitz auf dem ehemaligen Brüsseler Galgenberg wiederum rein zufälligerweise in die Hände gelaufen bin, und zwar auf den Stufen des Justizpalasts, der, wie er mir sogleich sagte, die größte Anhäufung von Steinquadern in ganz Europa darstellte. Der Bau dieser singulären architektonischen Monstrosität, über die Austerlitz zu jener Zeit eine Studie zu verfassen gedachte, ist, wie er mir erzählte, in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf das Drängen der Brüsseler Bourgeoisie überstürzt in Angriff genommen worden, ehe noch die grandiosen, von einem gewissen Joseph Poelaert vorgelegten Pläne im einzelnen ausgearbeitet waren, was zur Folge hatte, daß es, so sagte Austerlitz, in diesem mehr als siebenhunderttausend Kubikmeter umfassenden Gebäude Korridore und Treppen gäbe, die nirgendwo hinführten, und türlose Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien und deren ummauerte Leere das innerste Geheimnis sei aller sanktionierten Gewalt. Austerlitz erzählte weiter, daß er, auf der Suche nach einem Initiationslabyrinth der Freimauer, von dem er gehört habe, daß es sich entweder im Kellergeschoß oder auf den Dachböden des Palastes befinde, viele Stunden schon durch dieses steinerne Gebirge geirrt sei, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß ihn je ein Mensch nach seinem Begehren gefragt hätte. Bisweilen habe er auf seinen Wegen, ermüdet oder um sich nach der Himmelsrichtung zu orientieren, bei den tief in das Gemäuer eingelassenen Fenstern hinausgeschaut über die wie Packeis ineinander verschobenen bleigrauen Dächer des Palais oder hinunter in Schluchten und schachtartige Innenhöfe, in die nie noch ein Lichtstrahl gedrungen sei. Immer weiter, sagte Austerlitz, sei er durch die Gänge geschritten, einmal links- und dann wieder rechtsherum, und endlos geradeaus, unter vielen hohen Türstöcken hindurch, und ein paarmal sei er auch über knarrende, provisorisch wirkende Holzstiegen, die hie und da von den Hauptgängen abzweigten und um einen Halbstock hinauf- oder hinterführten, in dunkle Sackgassen geraten, an deren Ende Rollschränke, Stehpulte, Schreibtische, Bürosessel und sonstige Einrichtungsgegenstände übereinandergetürmt gewesen seien, als habe hinter ihnen jemand in einer Art Belagerungszustand ausharren müssen. Ja, so behauptete Austerlitz, er habe sogar sagen hören, daß sich in dem Justizpalast, aufgrund seiner tatsächlich jedes Vorstellungsvermögen übersteigenden inneren Verwinkelung, im Verlaufe der Jahre immer wieder einmal in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank, hätten einrichten können, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain von einem Menschen namens Achterbos, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das Hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umgewandelt worden sein. 
Kongo

Ich habe mal Bilder von dem "Monster" gegoogelt, da war ich richtig erschrocken. Man kann sich vorstellen, mit was für einem Geist diese Leute damals über den Kongo gekommen sind.
Wikipedia schreibt dazu:
Unter der Bezeichnung Kongogräuel wurde die systematische Ausplünderung des Kongo-Freistaats etwa zwischen 1888 und 1908 bekannt, als Konzessionsgesellschaften, vor allem die Société générale de Belgique, die Kautschukgewinnung mittels Sklaverei und Zwangsarbeit betrieben. Dabei kam es massenhaft zu Geiselnahmen, Tötungen, Verstümmelungen und Vergewaltigungen. Es wird geschätzt, dass acht bis zehn Millionen Kongolesen den Tod fanden, etwa die Hälfte der damaligen Bevölkerung.
1866 bis 1883 wurde der Justizpalast gebaut. Ich glaube nicht, das jemals einer der Mörder, Vergewaltiger und Folterer ihn von innen gesehen hat. Jedenfalls nicht auf der Anklagebank.

Tage später: 
In der Sebald-Biographie von Uwe Schütte stoße ich dann tatsächlich auf das Thema Kongo. Sebald hat es in Die Ringe des Saturn behandelt:
" Damals war der Kongo nur ein weißer Fleck auf der Afrikakarte gewesen [...] Inzwischen freilich war die Karte ausgefüllt worden. The white patch had become a place of darkness", schreibt der Erzähler in Anspiel auf Conrads Roman. "Tatsächlich gibt es in der ganzen, größtenteils noch ungeschriebenen Geschichte des Kolonialismus kaum ein finstereres Kapital als das der sogenannten Erschließung des Kongo."
Federführend dabei war die 1876 gegründete Association Internationale pour l'Exploration et la Civilisation en Afrique, der Mitgleider der gesellschaftlichen Elite, Vertreter aus Adel, Hochfinanz, Wissenschaft und Kirche angehörten. Unter dem Vorwand, "die Öffnung des letzten Teils unserer Erde, der bislang von den Segnungen der Zivilisation unberührt geblieben sei", voranzutreiben, ging es tatsächlich darum, die "unerschöpflichen Reichtümer" des Kongo "ohne Rücksichtnahme auszubeuten".
In einem beispiellosen, "von sämtlichen Aktionären und sämtlichen im Kongo tätigen Europäer sanktionierten Zwangsarbeits- und Sklavensystem" werden die Einheimischen unerbittlich versklavt und durch Erschöpfung, Auszehrung und Krankheiten dezimiert.
Zwischen 1890 und 1900 lassen jedes Jahr schätzungsweise fünfhunderttausend dieser namenlosen, in keinem Jahresbericht verzeichneten Opfer ihr Leben. Im selben Zeitraum steigen die Aktien der Campagnie du Chemin de Fer du Congo von 320 auf 2850 belgische Franken.

So wird Conrads Empfindung wiedergegeben, dass "die Hauptstadt des Königreichs Belgien mit ihren immer bombastischer werdenden Gebäuden" ihm nach der Rückkehr aus dem Kongo erscheint "wie ein über einer Hekatombe von schwarzen Leibern sich erhebendes Grabmal, und die Passanten auf der Straße kommen ihm vor, als trügen sie allesamt das Kongolesische Geheimnis in sich."
Ich frage mich, ob die Menschheit sowas wie ein 'Menschenfresser'-Gen in sich trägt, das - wenn es 'angeschaltet' ist, einfach nur seiner Natur folgt und irgendeine gigangische Maschine oder Unternehmung in Gang setzt, die dann vollkommen gedankenlos und unaufhaltsam auf ein Ziel zusteuert und bei ihrem Betrieb ungeheure Mengen an Menschen verbraucht. Wie jetzt in Syrien. Sie sterben und sterben und sterben.