Montag, 19. Dezember 2016

Gollum

Heute hatte ich mal wieder eine Verhandlung als Schöffin, es ging um Urkundenfälschung und Betrug. Der Richter fasste uns vor der Verhandlung den Fall im Richterzimmer zusammen: ein Kleinkrimineller in England, drogensüchtig, schon häufig straffällig gewesen, hatte 2.000 Pfund Schulden bei seinem Drogendealer für Kokain. Er konnte nicht zahlen. Sein Dealer vermittelte ihn daraufhin an eine Bande, die sich folgenden Coup ausgedacht hatte: sie eigneten sich die Bank-Karte von einem Bankmanager der Deutschen Bank in England an - sowas macht man, indem man in seinem Namen eine neue beantragt und die 'abfischt'. Es ist mir ein Rätsel, aber wie auch immer, es ist ihnen gelungen. Dann haben sie in München per Internet und Telefon zwei Uhren gekauft im Wert von 300.000€. Dreihunderttausend Euro. Zwei Uhren.
Unser Angeklagter sollte nun mit dem falschem Ausweis des Bankers hierher fliegen, um die Uhren abzuholen. Alles musste natürlich sehr schnell gehen, ehe der echte Banker merken konnte, dass mit seinem Konto etwas nicht stimmte. Der Kauf wurde am Donnerstag getätigt, am Freitag war das Geld überwiesen, Samstag sollten die Uhren abgeholt werden.
Da gab es dann das erste Problem: der Juwelier sagte, Samstag abholen ginge nicht, da die Uhren im Tresor einer Bank liegen und er sie erst Montag holen könne. Darauf wurde der Gangster - einen Namen wusste der Angeklagte nicht, er hätte ihn Big Boss nennen müssen - so wütend am Telefon, dass der Juwelier misstrauisch wurde.
"So laufen solche Geschäfte bei uns nicht ab", sagte er. "Da ist ein Druck entstanden. Und wenn Druck entsteht, da stimmt was nicht."
Aber er hatte das Geld bekommen, was sollte er tun? Er war sich nicht sicher.
Er holte die Uhren am Montag ab. Auf dem Rückweg sah er an der Ecke bei seinem Geschäft jemand in einem Koffer wühlen, sich dann aufrichten und ein Gebiss in den Mund schieben: der 'Banker'! Der Juwelier erkannte ihn, weil er zuvor eine Kopie des (gefälschten) Ausweises bekommen hatte.
Dazu muss man wissen, dass der Angeklagte nicht nur keine Zähne hatte, sondern er sah - ohne ihm zu nahe treten zu wollen, wie die Staatsanwältin sagte - nicht wie ein Manager der Deutschen Bank aus. Egal, was man von der Deutschen Bank im allgemeinen halten mag, wie der Richter im Hinterzimmer sagte. Er sah haargenau aus wie der Gollum in 'Herr der Ringe'.



Dieselben großen, rotgeränderten Kinderaugen mit den tiefen Ringen, die abstehenden Ohren, die schütternen Haarsträhnen über den Sorgenfalten, der lange, dürre Hals, der freundlich-verstörte Gesichtsausdruck, bleich und mager - dazu sprach er einen brutalen Cockney-Akzent... er war mit jedem Detail seiner Person so ziemlich das Gegenteil von dem, wie man sich einen Bankmanager vorstellt, der mal eben 300.000 Euro für zwei Uhren ausgeben kann.
Was tun? Der Juwelier war in größter Verlegenheit: wenn er die Polizei holte, beleidigte er möglicherweise einen vermögenden Kunden. Holte er sie nicht, verlor er vielleicht die Uhren an einen Betrüger.
"Ich musste Zeit gewinnen", sagte er.
Er behauptete erstmal, er könnte die Uhren nicht rausgeben, das Geld sei zwar da, aber von seiner Bank eingefroren, wegen dem Geldwäschegesetz.
"Okee", dachte unser Angeklagter und zog erleichtert ab, denn er war ein fürchterlicher Feigling.
Aber Big Boss bombardierte ihn mit wütenden Anrufen und Drohungen, also ging er zurück ins Geschäft, hielt dem Juwelier wortkarg das Handy hin: das sei sein Anwalt, er solle bitte mit ihm sprechen.
Der Juwelier sprach mit dem Betrüger, es gab ein Hin und Her, und dann trafen endlich die Polizisten  ein, die der Juwelier nun doch angerufen hatte: zwei Streifenpolizisten, zwei in Zivil. Dass der Ausweis gefälscht war, sah der eine Beamte sofort und auf Nachfrage riss der Angeklagte sofort seinen eigenen Ausweis aus der Tasche und gab ihn dem Polizisten. Er wurde in Ketten gelegt und kam ins Gefängnis. Dort saß er nun seit Anfang September. Seine Hintermänner wurden zwar in England verfolgt, aber die englische Polizei arbeitet nicht mit der deutschen zusammen, also weiß man nicht, was aus denen geworden ist.
Noch vor der Verhandlung wollte der Rechtsanwalt mit der Staatsanwältin einen Deal aushandeln, wir setzten uns also im Hinterzimmer zusammen und der Rechtsanwalt sprach sehr beredt und gefühlvoll von der harmlosen Blödigkeit seines Mandanten und dass wir ihn zu Weihnachten nach Hause schicken sollten. Aber die Staatsanwältin, die erst zehn Minuten vor der Verhandlung den Fall vertretungsweise übernommen hatte, winkte ab. Dreihunderttausend Euro. Und extra nach Deutschland eingereist mit falschen Papieren. Und schlechte Sozialprognose.
Wir hörten uns also alle an: den 'Gollum' (mit Simultanübersetzer), den Juwelier, die Polizisten, dann die Staatsanwältin (2 Jahre und 3 Monate!) und den Anwalt (1 Jahr und 6 Monate auf Bewährung!) und hatten nun zu entscheiden, ob wir unseren Angeklagten nach Hause lassen oder einsperren. Aber wenn es um solche Summen geht, und mit so einer kriminellen Vorgeschichte (er war schon mehrmals im Gefängnis) war keine Bewährungsstrafe möglich: er bekam 1 Jahr und 10 Monate. Möglich wären bis zu 5 Jahren gewesen. Wahrscheinlich ist das besser als eine Geldstrafe, das hätte er nie im Leben gebacken gekriegt.
Wie trostlos ist so ein Leben, was für eine trübe, dumme Geschichte.
Aber was alle am meisten bewegte daran war, dass es Uhren gibt, die 150.000 Euro kosten. Bis auf meinen Schöffen-Kollegen, der immer alles besser weiß und sagte, von dieser Marke (ich habe sie vergessen) gäbe es noch wesentlich teurere Modelle. Dem Anwalt traten schier die Tränen in die Augen.
"Und wie haben sie es geschafft, innerhalb von 30 Minuten 300.000 Euro zu überweisen?" fragte er uns missmutig. "Ich brauche Tage, um von meinem Konto 3.000 Euro zu bewegen."
Aber das konnte selbst mein Schöffen-Kollege nicht beantworten.
Der Richter sagte, es nimmt immer mehr zu, dass Kriminelle aus dem Ausland Straftaten in Deutschland begehen, weil sie auf die schlechte Zusammenarbeit der Polizei rechnen können. Sie werden nicht wirklich verfolgt. Vielleicht nervt die deutsche Polizei die anderen aber auch mit ellenlangen Berichten. In der Akte waren Fotos von jeder einzelnen SMS und Mail, die auf dem Handy des Angeklagten war. Niemand von den Prozessbeteiligten hatte sich das durchgelesen.

Zum Abschluss sagte mir mein Schöffen-Kollege: von zehn der giftigsten Tiere der Welt leben acht in Australien.


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