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Donnerstag, 16. Februar 2017

Gericht

Heute wieder Schöffendienst. Auf der Fahrt zum Gericht hatte ich einen pädagogisch sehr ambitionierten U-Bahnfahrer. In langgedehntem Bayerisch, die Fahrgäste patriarchalisch-gelassen dutzend, machte er sich daran, uns einige Überlebensregeln mit auf den Weg zu geben.
"Du musst besser auf dein Kind aufpassen! Das ist noch viel zu klein, um da allein mit dem Wagerl rumzufahren. Das gehört an die Hand", dröhnte es durch die Lautsprecher in allen Waggons.
Und: „Das war jetzt nicht sehr clever, was du da gemacht hast. Das heißt „Bitte zurückbleiben!“ und nicht: „Bitte noch reinquetschen!“
Es gelang mir dann, fehlerfrei am Sendlinger Tor umzusteigen.


*

Ich sitze im Hinterzimmer. Der Richter hat mir eine Kopie mit dem Fall in die Hand gedrückt, seine Robe über den Stuhl geworfen und gesagt: „Ich geh nochmal eine rauchen.“ Der andere Schöffe ist noch nicht da. Die Protokollführerin streckt den Kopf rein: „Ist der zweite Schöffe immer noch nicht da?“ Enttäuscht verschwindet sie wieder. Ich lese die Papiere.
Die Staatsanwaltschaft legt aufgrund ihrer Ermittlungen dem Angeschuldigten folgenden Sachverhalt zur Last:
Der Angeschuldigte schloss sich zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt mit dem anderweitig Verfolgten (Name, Geburtsdatum), sowie mindestens einer weiteren derzeit noch unbekannten weiblichen Person zusammen, um gemeinschaftlich und arbeitsteilig die Schleusung von mehreren, im Einzelnen noch unbekannten syrischen Staatsangehörigen gegen Entgeld von Budapest ausgehend nach Deutschland durchzuführen, wobei die Syrer, wie alle Beteiligten wussten, nicht im Besitz von Aufenthaltstiteln und Pässen für die Europäische Union sein würden.
Ziel des Angeschuldigten und der weiteren Mitglieder war es, sich aus wiederholter Tatbegehung eine dauerhafte Einnahmequelle von nicht unerheblichem Umfang zu sichern.
Der anderweitig Verfolgte (Name) rekrutierte die Fahrer sowie die Pkws bzw. fungierte teilweise selbst als Fahrer. Der Angeschuldigte führte eine Liste von verschiedenen Asylbewerbern, die er je nach Eingangsdatum abarbeitete und an die Schleuserfahrer in Budapest, insbesondere an die chinesische Straße, vermittelte. Im Rahmen einer Schleusung durch mehrere PKWs wurde ein leerer PKW vorausgeschickt, um über etwaige Polizeikontrollen zu informieren. Eine derzeit noch unbekannte Frau informierte die Fahrer per Mobiltelefon, wo die Geschleusten in Deutschland abzusetzen seien. Nach Rückkehr der Fahrer wurde das versprochene Entgelt von 300 bis 400 Euro durch den Angeschuldigten ausgezahlt.
Wenn der andere Schöffe nicht kommt, platzt der Termin. Es sei denn, sie haben Notfallschöffen in der Hinterhand, die hier um die Ecke wohnen.

Da! Wir bekommen neue Informationen. Die andere Schöffin hat verschlafen, sie kommt in einer halben Stunde.Die Staatsanwältin und der Verteidiger kommen mit dem Richter zu einem Rechtsgespräch in das Hinterzimmer. Die Drei diskutieren lebhaft, ich verstehe kein einziges Wort. Ich sage: „Ich verstehe kein einziges Wort.“ Die Staatsanwältin fasst alles sehr schön für mich zusammen und sie diskutieren das Strafmaß. Sie einigen sich darauf, dass sie 2 Jahre 6 Monate beantragen wird, aber er dann nur 2 Jahre und 3 Monate bekommt.
„2 Jahre und 3 Monate ist die unterste Grenze“, sagt die Staatsanwältin und klopft mahnend mit dem Zeigefingernagel auf den Tisch.
Der Richter sagt „Bei mir gibt es immer Vollzug, wenn Menschenleben gefährdet wurden, d.h. das Auto war überladen und die Leute nicht angeschnallt.“Der Verteidiger prahlt noch ein bisschen mit einem Erfolg, den er in Rosenheim neulich hatte. Dann geht der Richter wieder eine rauchen.

Ich versuche, ein bisschen vor die Tür zu gehen, aber ich habe meine Ladung oben vergessen. Ohne Ladung, sagt der schwerbewaffnete Polizist am Eingang, komme ich nicht wieder rein, bzw. muss durch die Schleuse. Ich sehe da Leute stehen, die auf langen Tischen ihre Taschen ausleeren, sie wirken gestresst. Ich verzichte und kompensiere den entgangenen Sauerstoff durch einen Schokoriegel.

Wir warten über eine Stunde auf die Schöffin. Dann betritt eine sehr verwirrte alte Frau das Hinterzimmer. Sie trägt eine Wollmütze, die mit großen Blumen bestickt ist und starrt uns nervös an. Der Richter begrüßt sie, sie schreit auf, als er ihr die Hand drückt. Ich lasse das also lieber. Sie setzt sich in Mantel, Schal und Mütze an den Tisch und scheint überhaupt nicht zu begreifen, wo sie ist. Sie fragt uns: „Suchen Sie auch das Zimmer 221?“

Wir klären sie über die Situation auf und der Richter gibt ihr die Papiere zu lesen. Wir warten, unterhalten uns leise, sie liest. Schließlich fragt sie uns, wie es jetzt weitergeht. Der Richter fragt sie, ob sie nicht ablegen möchte. Sie zieht Mantel und Schal aus, die Mütze behält sie auf, weil sie ihre Haare nicht gekämmt hat. Dann kann die Verhandlung beginnen.

Der Angeklagte ist aus Aleppo, lebt aber schon zwanzig Jahre in Budapest, hat einen Secondhandshop und stottert grade eine Eigentumswohnung ab.

Die Staatsanwältin liest die Anklage vor, es sind die vier Seiten, die ich auch bekommen habe. Die Übersetzerin, die während sie spricht pausenlos Kaugummi kaut, übersetzt parallel und der Angeklagte hört schweigend zu und nickt immer wieder nachdrücklich. Alle fallen allmählich in eine Art Trance, da sie den Text kennen und in Kopie vorliegen haben. Der Verteidiger tippt verstohlen unter dem Tisch in sein Smartphone. Es ist 11 Uhr. Ich bin seit zwei Stunden im Gericht und die Wirkung des Schokoriegels beginnt allmählich nachzulassen.

Jetzt erhebt die Staatsanwältin die Stimme und ich schrecke hoch. Sie tut das, weil da ein Satz in Fettdruck steht: „Der Angeklagte wird beschuldigt“ – dann geht es in Normaldruck weiter und sie senkt ihre Stimme wieder.

Sie wollen nicht alle Zeugen – alles Polizeibeamte – hören, da der Angeklagte gestanden hat. Das kommt ganz selten vor, das vereinfacht alles sehr. Ein heikler Punkt sind die anderen Beteiligten: er hatte ja einen Komplizen und eine Komplizin und ab drei Personen ist man eine Bande und das Strafmaß erhöht sich beträchtlich. Er weist die Beteiligung der Frau von sich. Er will kein Mitglied einer Bande sein.

Wir hören die Polizeibeamten, die ermittelt haben. Ein unwahrscheinlich gutaussehender Hauptkommissar sagt aus. 500 Euro kostet eine Schleusung nach Deutschland, 700 Euro nach Belgien. Er beginnt dann aber, sich in Details zu verlieren. Er schildert, wie er einen Geschleusten der Lüge überführt hat, der behauptet hatte, in München eine Arbeit in einem ungarischen Lokal zu bekommen. Er setzte sich mit dem an den PC, ließ ihn googlen und alle Schritte machen, die er – angeblich – gemacht hatte, das Lokal zu finden. Es gibt aber so ein Lokal nicht. Begeistert führte der Kommissar aus, wie sich der Syrer in Lügen verstrickte, die von ihm augenblicklich aufgedeckt worden waren. Schließlich unterbrach ihn der Richter und lenkte ihn zurück zu dem eigentlichen Verfahren.

Wir schließen die Beweisaufnahme, die Staatsanwältin hält ihr Plädoyer. Sie sagt, für das Schleusen gibt es einen Rahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Haft. Sie fasst die Anklagepunkte zusammen und die Übersetzerin hebt ebenfalls entrüstet die Stimme, wenn die Staatsanwältin mit besonderem Nachdruck spricht.
Sie sagt, unsere Kanzlerin hätte zwar gesagt: Kommt’s alle!, aber was sie nie gewollt hat ist, dass Syrer als Schleuser Kapital schlagen aus dem Leid ihrer Landsleute.

Der Verteidiger findet, dass das Geständnis extrem viel wert ist. Er ist sehr groß und scheitert an dem Versuch, sich beim Sprechen mit beiden Händen auf den niedrigen Tisch zu stützen, also verschränkt er die Arme vor der Brust, um sie irgendwo unterzubringen.

Schließlich ziehen wir - das hohe Gericht - uns zur Beratung zurück. Der Richter schaut mich an: "Alles wie besprochen?" und ich nicke. Die andere Schöffin fragt: "Ist die Strafe nicht zu hoch?" Da wird der Richter das erste Mal richtig grantig. Es ist schon blöd: erst verschlafen, dann die Mütze nicht abnehmen und dann nicht Bescheid wissen, was besprochen worden war.
Das alles - die Fluchtbewegungen und die Schleuseraktivitäten - das alles ist einfach furchtbar und übersteigt mein Urteilsvermögen. Da steige ich aus, innerlich, ich kann da nicht mit.


Mittwoch, 8. Februar 2017

Räuber

Gestern "Die Räuber" im Residenztheater. Ich habe die Kritiken nicht verfolgt, das hole ich jetzt nach. Die SZ schreibt:
Rasches "Räuber"-Unternehmung ist tatsächlich eine Schau. Sie ragt so steil und gesamtkunstwerklich kühn aus dem Normalspielbetrieb heraus, dass man erst mal staunen und sich dann dazu verhalten muss. Love it or hate it. Fühle dich gefühlsmanipuliert, geplättet, erschlagen - oder von Schillers Versen auf Wort- und Maschinenwalzen "hehr" getragen: Diese Arbeit fordert heraus. Sie lässt einen nicht kalt.

Ich kämpfte bis zur Pause - zwei Stunden! - mit dem Drang, mich zu Boden gleiten zu lassen um mich von Sprechchören und einförmigem Pizzicato der Geigen und dumpfen Dröhnen der Trommel einwiegen zu lassen in einen tiefen Schlaf. Aber dort ist kein Platz, in diesem engen Theaterraum.
Die Inszenierung erschien mir einfach als ein "Erlebnistheater", ein Event. Das ist nicht das, was ich vom Theater will. Ich will Innenleben. Hier wurden die Texte runtergeschrien, natürlich mit Mikros, wegen der pausenlosen Musikuntermalung. Zum Glück hatte ich vorher einiges gelesen, so dass ich dem völlig sinnfreien Rezitieren einigermaßen folgen konnte, aber es war anstrengend. Und es erscheint mir sinnlos, so mit Text umzugehen, auch wenn es wirklich gut gemacht war.
Die Laufbänder waren schön, das unentwegte langsame Schreiten der Schauspielerinnen und Schauspieler erzeugte einen Pulsschlag, der einen - mich - schon hineinzog in die Sache, aber das war dann gut nach einer Stunde. Insgesamt vier Stunden? Ich musste gehen.

*

Am Mittag war der Rest unserer Verhandlung gegen den Syrer, der mit dem Kilo Hasch erwischt worden war, da stand ein Gutachten aus, das aber nichts ergeben hatte. Es ging sehr schnell.
Der Angeklagte saß zusammengekrümmt auf seinem Stuhl und umklammerte mit einer Hand einen zerschlissenen Pappordner, in dem wohl seine Papiere waren. Als die Staatsanwälting ihr Plädoyer hielt, fing er an zu weinen und hörte nicht mehr auf, bis der Richter, nach dem Plädoyer des Anwalts, ihm das letzte Wort gab. Alle warteten, in der Stille hörte man nur sein Schniefen, er würgte an den Tränen, sprechen konnte er nicht.
"Sie schließen sich Ihrem Anwalt an?" schlug der Richter vor und der Angeklagte nickte heftig, nachdem er die Übersetzung gehört hatte.
Er bekam Bewährung - zum Glück waren Richter und Schöffin-Kollegin diesmal nicht schwierig - und er begriff es erst nicht und fuhr dann auf, als ihm klar wurde, dass er frei war. Jetzt begann ein Hin und Herr mit Entlassungspapieren, die Polizisten packten die Handschellen ein und sagten, im Transporter nach Stadelheim sei klein Platz frei, sie hätten heute so viele Gefangene, er musste also selber sehen, wie er hin kam um seine Sachen zu holen. Der Anwalt zückte seine Geldbörse und drückte im 20 Euro in die Hand: "Rufen Sie mich an, wenn was ist!"
Fünf Monate hatte er im Gefängnis gesessen, ich möchte nicht wissen, wie es ihm dort ergangen war. Ein Gemüsehändler aus Damaskus.

*

Eine Mail von dem Förster aus unserem Dorf: er fragt sich seit über zwanzig Jahren, schreibt er, warum dieser kleine Wald nicht bewirtschaftet wird. Er ist zuständig für die Pflege der Privatwälder in unserem Dorf und macht das gerne auch für uns. Ich freue mich, er klang sehr vernünftig. Ich werde mit ihm telefonieren und bin gespannt, was er erzählt über den Brink.



Mittwoch, 25. Januar 2017

Arbeiten

Gestern war ich bei einer Veranstaltung der GLS-Bank zum Thema Bedingungsloses Grundeinkommen. Es sprach Börries Hannemann von Neopolis. Ein sehr spannendes Thema, weil man damit das Denken ändert, nicht nur die Finanzsituation. Er sagte sie wollen, dass die Sanktionen bei Nichterfüllung von Auflagen für Hartz4-Empfänger/innen aufhören und haben eine Initiative gegründet, die dagegen klagt. Und sie bekommen vor dem obersten Gericht immer Recht, ganz automatisch, weil der Staat niemand verhungern lassen darf. Auf diese Weise wollen sie nach und nach den Staat umlenken: keine Sanktionen mehr.
Das Allerbeste war: er sagte, wir sollen alle kündigen. Nicht so direkt, aber ich habe es so hören können. Es ging um selbstbestimmtes Arbeiten, kein Mensch sollte beherrscht von Vorgesetzten an einem weisungsbezogenen Arbeitsplatz arbeiten. Er selbst hatte ein Jahr angestellt gearbeitet, dann hatte er genug und schmiss hin. Das ist überholt, antiquiert und kontraproduktiv, diese Art der Sklaverei. Ich glaube ja, dass das furchtbare Auswirkungen auf uns haben kann, ohne dass wir das merken. Weil diese Macht sich als so selbstverständlich generiert, als wäre sie natürlich. Es gibt bei uns z.B. einen Tonfall für Sachbearbeiterinnen und einen für Abteilungsleiter. Zwei verschiedene Tonfälle.
HIer ist ein interessantes Interview aus der ZEIT vom Juli 216: Der ehemalige US-Gewerkschaftsboss Andrew Stern wirbt für ein bedingungsloses Grundeinkommen als neuen amerikanischen Traum. Wie passt das zum Arbeitsethos der USA?
Er sagt:
"Ein Grundeinkommen hilft, dass jeder ein tragendes Standbein hat und sein Spielbein selbstständig entwickeln kann, auch wenn der Job weg ist."
Mein Spielbein schreitet nach Australien.

*

Heute stand in der Süddeutschen, dass die Bienen, die im Winter nichts zu tun haben, sich nützlich machen, in dem sie mit ihren Muskeln vibrieren, um ihre Königin zu wärmen. Tüchtige, sportliche  Bienen.


*

Heute wieder beim Gericht: am Vormittag ein syrischer Asylbewerber aus Frankfurt, der hier am Busbahnhof mit fast einem Kilo Haschisch erwischt worden ist. Ganz einfach, bei einer Routine-Passkontrolle. Die Polizisten fanden in seinem Rucksack eine Plastiktüte mit 10 Platten einer dunklen Substanz. "Eine syrische Süßigkeit", behauptete der Angeklagte. Sie machten einen Drogentest, aber der war in dem heißen Sommer letztes Jahr kaputtgegangen und funktionierte nicht mehr. Polizistenalltag. Zum Glück hatten sie einen Drogenhund da, der meldete sofort: Hasch!
Der Angeklagte, ein spindeldürrer, dunkler Mensch, saß die ganze Zeit mit dem Rücken zu uns und starrte besorgt seinen Übersetzer an. In einer langen Reihe saßen sämtliche Polizisten, die mit ihm zu tun gehabt hatten. Sie mussten dann raus und wurden nacheinander wieder reingerufen. Der Richter stellte ihnen allen nacheinander genau diesselben Fragen und sie antworteten alle dasselbe. Also: niemand log. Dann wurde die Verhandlung abgebrochen, weil ein Gutachten fehlte. Ein Polizist hat Humanmaterial von der Plastiktüte geschabt, in der die Platten mit dem gepressten Hasch verpackt gewesen waren, das war noch im Labor. In zwei Wochen werden wir weitermachen.

Am Nachmittag dann ein Mann um die dreißig, ein netter, total harmloser Typ, der eifrig und tollpatschig wie ein junger Welpe die Fragen des schlechtgelaunten Richters beantwortete, mühsam in Schach gehalten von seiner verhärmten, sarkastischen Rechtsanwältin.
Er hatte einem 15-Jährigen Bekannten in siebzig Fällen ein wenig Haschisch geschenkt oder zum Selbstkostenpreis verkauft, das er von einem Freund besorgt hatte, der professionell eine Plantage betrieb. Dann kam der Dealer ins Gefängnis und wurde u.a. auch für diese Sache verklagt: einen Minderjährigen beliefert zu haben. Die Mutter des Dealers überredete nun unseren Angeklagten, er solle zur Polizei gehen und sagen, dass er es war, der dem Jugendlichen das Hasch gegeben hatte. Ihm würde nichts passieren. Eine Geldstrafe, aber die würde die Mutter zahlen. Allenfalls eine Bewährungsstrafe.
Tatsache ist: ihm drohten für jede der 70 Transaktionen ein Jahr Gefängnis. In der Theorie also 70 Jahre, und nicht auf Bewährung. Denn die Gesetze sind extrem streng, was Erwachsene angeht, die Jugendliche mit Rauschgift versorgen. Das hat er natürlich nicht gewusst. Der Junge hatte ihn derartig bedrängt und unter Druck gesetzt, er konnte dem nicht auskommen. In den Verhören hatte der Junge gesagt: "Das ist so ein Depp, mit dem kannst du alles machen."
Jedenfalls glaubte er der Mutter des Dealers und zeigte sich selbst an. Ein Rechtsanwalt hatte noch versucht, ihn zu retten ("Halt den Mund, sonst sperrn's dich weg!"), aber er begriff einfach nichts. Kam sofort ins Gefängnis.
Dort saß er nun schon zwei Monate. Der Jugendliche, der von dem Kriminalbeamten als extrem kaltschnäuzig und abgebrüht bezeichnet wurde, war mittlerweile wegen einer anderen Sache ebenfalls haftiert und wurde nun von zwei Polizisten in Handschellen vorgeführt. Ein gutaussehender Teenager, er saß breitbeinig im Zeugenstuhl, starrte uns an und sagte:
"Ich habe eine Frage: warum bin ich eigentlich hier?"
Der Richter sagte: "Um als Zeuge auszusagen."
Er sagte: "Ich mache von meinem Zeugenverweigerungsrecht Gebrauch."
"Aber warum denn?" fragte der Richter verblüfft. "Sie haben bei der Polizei doch schon ausgesagt."
Der Jugendliche starrte den Richter aufmerksam an und schwieg.
Der Richter zuckte mit den Schultern: "Da bin ich machtlos."
Die Polizisten zückten die Ketten und der Jugendliche wurde wieder weggebracht. Nicht ohne vorher zu versuchen, mit dem "Depp" zu plaudern. Dessen Bewacher warf sich dazwischen. Der Junge fuhr ihn böse an, der Polizist aber schnauzte zurück. 
Die Verhandlung ging weiter. Man einigte sich grundsätzlich erstmal auf einen minder schweren Fall, angesichts der Harmlosigkeit und Naivität des Angeklagten, d.h. heißt für jede Straftat gab es nur drei Monate statt einem Jahr. Die Staatsanwältin forderte dann insgesamt 4 Jahre und 6 Monate, die Verteidigerin nicht über 2 Jahre und die auf Bewährung. Der Angeklagte hatte das letzte Wort. Er sprang so hastig auf, dass sein Stuhl zurückknallte und rief:
"Es tut mir leid und es wird nie wieder vorkommen!"
Dann stand er da und ließ den Richter, der uninteressiert in den Akten wühlte, nicht aus den Augen.
"Sie können sich wieder setzen", murmelte die Anwältin schließlich. Verstört suchte er nach seinem Stuhl.
 Wir gingen raus zur Beratung. Ich hätte mich der Bewährungsstrafe angeschlossen, aber der Richter und die andere Schöffin wollten ihn im Gefängnis sehen: 2 Jahre und 3 Monate gaben sie ihm, ich konnte mich nicht durchsetzen.
"Der braucht einen Schuss vor den Bug!" erregte sich die Schöffin und der Richter brummte behaglich, während er das Urteil schrieb: "Dummheit schützt vor Strafe nicht."
Als der Richter das Urteil verkündete, kamen dem Angeklagten die Tränen. Er versuchte ungeschickt, es mit einem hilflosen Lächeln zu vertuschen. Bis zum Schluss konnte er den Richter nicht aus den Augen lassen.



Montag, 19. Dezember 2016

Gollum

Heute hatte ich mal wieder eine Verhandlung als Schöffin, es ging um Urkundenfälschung und Betrug. Der Richter fasste uns vor der Verhandlung den Fall im Richterzimmer zusammen: ein Kleinkrimineller in England, drogensüchtig, schon häufig straffällig gewesen, hatte 2.000 Pfund Schulden bei seinem Drogendealer für Kokain. Er konnte nicht zahlen. Sein Dealer vermittelte ihn daraufhin an eine Bande, die sich folgenden Coup ausgedacht hatte: sie eigneten sich die Bank-Karte von einem Bankmanager der Deutschen Bank in England an - sowas macht man, indem man in seinem Namen eine neue beantragt und die 'abfischt'. Es ist mir ein Rätsel, aber wie auch immer, es ist ihnen gelungen. Dann haben sie in München per Internet und Telefon zwei Uhren gekauft im Wert von 300.000€. Dreihunderttausend Euro. Zwei Uhren.
Unser Angeklagter sollte nun mit dem falschem Ausweis des Bankers hierher fliegen, um die Uhren abzuholen. Alles musste natürlich sehr schnell gehen, ehe der echte Banker merken konnte, dass mit seinem Konto etwas nicht stimmte. Der Kauf wurde am Donnerstag getätigt, am Freitag war das Geld überwiesen, Samstag sollten die Uhren abgeholt werden.
Da gab es dann das erste Problem: der Juwelier sagte, Samstag abholen ginge nicht, da die Uhren im Tresor einer Bank liegen und er sie erst Montag holen könne. Darauf wurde der Gangster - einen Namen wusste der Angeklagte nicht, er hätte ihn Big Boss nennen müssen - so wütend am Telefon, dass der Juwelier misstrauisch wurde.
"So laufen solche Geschäfte bei uns nicht ab", sagte er. "Da ist ein Druck entstanden. Und wenn Druck entsteht, da stimmt was nicht."
Aber er hatte das Geld bekommen, was sollte er tun? Er war sich nicht sicher.
Er holte die Uhren am Montag ab. Auf dem Rückweg sah er an der Ecke bei seinem Geschäft jemand in einem Koffer wühlen, sich dann aufrichten und ein Gebiss in den Mund schieben: der 'Banker'! Der Juwelier erkannte ihn, weil er zuvor eine Kopie des (gefälschten) Ausweises bekommen hatte.
Dazu muss man wissen, dass der Angeklagte nicht nur keine Zähne hatte, sondern er sah - ohne ihm zu nahe treten zu wollen, wie die Staatsanwältin sagte - nicht wie ein Manager der Deutschen Bank aus. Egal, was man von der Deutschen Bank im allgemeinen halten mag, wie der Richter im Hinterzimmer sagte. Er sah haargenau aus wie der Gollum in 'Herr der Ringe'.



Dieselben großen, rotgeränderten Kinderaugen mit den tiefen Ringen, die abstehenden Ohren, die schütternen Haarsträhnen über den Sorgenfalten, der lange, dürre Hals, der freundlich-verstörte Gesichtsausdruck, bleich und mager - dazu sprach er einen brutalen Cockney-Akzent... er war mit jedem Detail seiner Person so ziemlich das Gegenteil von dem, wie man sich einen Bankmanager vorstellt, der mal eben 300.000 Euro für zwei Uhren ausgeben kann.
Was tun? Der Juwelier war in größter Verlegenheit: wenn er die Polizei holte, beleidigte er möglicherweise einen vermögenden Kunden. Holte er sie nicht, verlor er vielleicht die Uhren an einen Betrüger.
"Ich musste Zeit gewinnen", sagte er.
Er behauptete erstmal, er könnte die Uhren nicht rausgeben, das Geld sei zwar da, aber von seiner Bank eingefroren, wegen dem Geldwäschegesetz.
"Okee", dachte unser Angeklagter und zog erleichtert ab, denn er war ein fürchterlicher Feigling.
Aber Big Boss bombardierte ihn mit wütenden Anrufen und Drohungen, also ging er zurück ins Geschäft, hielt dem Juwelier wortkarg das Handy hin: das sei sein Anwalt, er solle bitte mit ihm sprechen.
Der Juwelier sprach mit dem Betrüger, es gab ein Hin und Her, und dann trafen endlich die Polizisten  ein, die der Juwelier nun doch angerufen hatte: zwei Streifenpolizisten, zwei in Zivil. Dass der Ausweis gefälscht war, sah der eine Beamte sofort und auf Nachfrage riss der Angeklagte sofort seinen eigenen Ausweis aus der Tasche und gab ihn dem Polizisten. Er wurde in Ketten gelegt und kam ins Gefängnis. Dort saß er nun seit Anfang September. Seine Hintermänner wurden zwar in England verfolgt, aber die englische Polizei arbeitet nicht mit der deutschen zusammen, also weiß man nicht, was aus denen geworden ist.
Noch vor der Verhandlung wollte der Rechtsanwalt mit der Staatsanwältin einen Deal aushandeln, wir setzten uns also im Hinterzimmer zusammen und der Rechtsanwalt sprach sehr beredt und gefühlvoll von der harmlosen Blödigkeit seines Mandanten und dass wir ihn zu Weihnachten nach Hause schicken sollten. Aber die Staatsanwältin, die erst zehn Minuten vor der Verhandlung den Fall vertretungsweise übernommen hatte, winkte ab. Dreihunderttausend Euro. Und extra nach Deutschland eingereist mit falschen Papieren. Und schlechte Sozialprognose.
Wir hörten uns also alle an: den 'Gollum' (mit Simultanübersetzer), den Juwelier, die Polizisten, dann die Staatsanwältin (2 Jahre und 3 Monate!) und den Anwalt (1 Jahr und 6 Monate auf Bewährung!) und hatten nun zu entscheiden, ob wir unseren Angeklagten nach Hause lassen oder einsperren. Aber wenn es um solche Summen geht, und mit so einer kriminellen Vorgeschichte (er war schon mehrmals im Gefängnis) war keine Bewährungsstrafe möglich: er bekam 1 Jahr und 10 Monate. Möglich wären bis zu 5 Jahren gewesen. Wahrscheinlich ist das besser als eine Geldstrafe, das hätte er nie im Leben gebacken gekriegt.
Wie trostlos ist so ein Leben, was für eine trübe, dumme Geschichte.
Aber was alle am meisten bewegte daran war, dass es Uhren gibt, die 150.000 Euro kosten. Bis auf meinen Schöffen-Kollegen, der immer alles besser weiß und sagte, von dieser Marke (ich habe sie vergessen) gäbe es noch wesentlich teurere Modelle. Dem Anwalt traten schier die Tränen in die Augen.
"Und wie haben sie es geschafft, innerhalb von 30 Minuten 300.000 Euro zu überweisen?" fragte er uns missmutig. "Ich brauche Tage, um von meinem Konto 3.000 Euro zu bewegen."
Aber das konnte selbst mein Schöffen-Kollege nicht beantworten.
Der Richter sagte, es nimmt immer mehr zu, dass Kriminelle aus dem Ausland Straftaten in Deutschland begehen, weil sie auf die schlechte Zusammenarbeit der Polizei rechnen können. Sie werden nicht wirklich verfolgt. Vielleicht nervt die deutsche Polizei die anderen aber auch mit ellenlangen Berichten. In der Akte waren Fotos von jeder einzelnen SMS und Mail, die auf dem Handy des Angeklagten war. Niemand von den Prozessbeteiligten hatte sich das durchgelesen.

Zum Abschluss sagte mir mein Schöffen-Kollege: von zehn der giftigsten Tiere der Welt leben acht in Australien.


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