Donnerstag, 16. Februar 2017

Gericht

Heute wieder Schöffendienst. Auf der Fahrt zum Gericht hatte ich einen pädagogisch sehr ambitionierten U-Bahnfahrer. In langgedehntem Bayerisch, die Fahrgäste patriarchalisch-gelassen dutzend, machte er sich daran, uns einige Überlebensregeln mit auf den Weg zu geben.
"Du musst besser auf dein Kind aufpassen! Das ist noch viel zu klein, um da allein mit dem Wagerl rumzufahren. Das gehört an die Hand", dröhnte es durch die Lautsprecher in allen Waggons.
Und: „Das war jetzt nicht sehr clever, was du da gemacht hast. Das heißt „Bitte zurückbleiben!“ und nicht: „Bitte noch reinquetschen!“
Es gelang mir dann, fehlerfrei am Sendlinger Tor umzusteigen.


*

Ich sitze im Hinterzimmer. Der Richter hat mir eine Kopie mit dem Fall in die Hand gedrückt, seine Robe über den Stuhl geworfen und gesagt: „Ich geh nochmal eine rauchen.“ Der andere Schöffe ist noch nicht da. Die Protokollführerin streckt den Kopf rein: „Ist der zweite Schöffe immer noch nicht da?“ Enttäuscht verschwindet sie wieder. Ich lese die Papiere.
Die Staatsanwaltschaft legt aufgrund ihrer Ermittlungen dem Angeschuldigten folgenden Sachverhalt zur Last:
Der Angeschuldigte schloss sich zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt mit dem anderweitig Verfolgten (Name, Geburtsdatum), sowie mindestens einer weiteren derzeit noch unbekannten weiblichen Person zusammen, um gemeinschaftlich und arbeitsteilig die Schleusung von mehreren, im Einzelnen noch unbekannten syrischen Staatsangehörigen gegen Entgeld von Budapest ausgehend nach Deutschland durchzuführen, wobei die Syrer, wie alle Beteiligten wussten, nicht im Besitz von Aufenthaltstiteln und Pässen für die Europäische Union sein würden.
Ziel des Angeschuldigten und der weiteren Mitglieder war es, sich aus wiederholter Tatbegehung eine dauerhafte Einnahmequelle von nicht unerheblichem Umfang zu sichern.
Der anderweitig Verfolgte (Name) rekrutierte die Fahrer sowie die Pkws bzw. fungierte teilweise selbst als Fahrer. Der Angeschuldigte führte eine Liste von verschiedenen Asylbewerbern, die er je nach Eingangsdatum abarbeitete und an die Schleuserfahrer in Budapest, insbesondere an die chinesische Straße, vermittelte. Im Rahmen einer Schleusung durch mehrere PKWs wurde ein leerer PKW vorausgeschickt, um über etwaige Polizeikontrollen zu informieren. Eine derzeit noch unbekannte Frau informierte die Fahrer per Mobiltelefon, wo die Geschleusten in Deutschland abzusetzen seien. Nach Rückkehr der Fahrer wurde das versprochene Entgelt von 300 bis 400 Euro durch den Angeschuldigten ausgezahlt.
Wenn der andere Schöffe nicht kommt, platzt der Termin. Es sei denn, sie haben Notfallschöffen in der Hinterhand, die hier um die Ecke wohnen.

Da! Wir bekommen neue Informationen. Die andere Schöffin hat verschlafen, sie kommt in einer halben Stunde.Die Staatsanwältin und der Verteidiger kommen mit dem Richter zu einem Rechtsgespräch in das Hinterzimmer. Die Drei diskutieren lebhaft, ich verstehe kein einziges Wort. Ich sage: „Ich verstehe kein einziges Wort.“ Die Staatsanwältin fasst alles sehr schön für mich zusammen und sie diskutieren das Strafmaß. Sie einigen sich darauf, dass sie 2 Jahre 6 Monate beantragen wird, aber er dann nur 2 Jahre und 3 Monate bekommt.
„2 Jahre und 3 Monate ist die unterste Grenze“, sagt die Staatsanwältin und klopft mahnend mit dem Zeigefingernagel auf den Tisch.
Der Richter sagt „Bei mir gibt es immer Vollzug, wenn Menschenleben gefährdet wurden, d.h. das Auto war überladen und die Leute nicht angeschnallt.“Der Verteidiger prahlt noch ein bisschen mit einem Erfolg, den er in Rosenheim neulich hatte. Dann geht der Richter wieder eine rauchen.

Ich versuche, ein bisschen vor die Tür zu gehen, aber ich habe meine Ladung oben vergessen. Ohne Ladung, sagt der schwerbewaffnete Polizist am Eingang, komme ich nicht wieder rein, bzw. muss durch die Schleuse. Ich sehe da Leute stehen, die auf langen Tischen ihre Taschen ausleeren, sie wirken gestresst. Ich verzichte und kompensiere den entgangenen Sauerstoff durch einen Schokoriegel.

Wir warten über eine Stunde auf die Schöffin. Dann betritt eine sehr verwirrte alte Frau das Hinterzimmer. Sie trägt eine Wollmütze, die mit großen Blumen bestickt ist und starrt uns nervös an. Der Richter begrüßt sie, sie schreit auf, als er ihr die Hand drückt. Ich lasse das also lieber. Sie setzt sich in Mantel, Schal und Mütze an den Tisch und scheint überhaupt nicht zu begreifen, wo sie ist. Sie fragt uns: „Suchen Sie auch das Zimmer 221?“

Wir klären sie über die Situation auf und der Richter gibt ihr die Papiere zu lesen. Wir warten, unterhalten uns leise, sie liest. Schließlich fragt sie uns, wie es jetzt weitergeht. Der Richter fragt sie, ob sie nicht ablegen möchte. Sie zieht Mantel und Schal aus, die Mütze behält sie auf, weil sie ihre Haare nicht gekämmt hat. Dann kann die Verhandlung beginnen.

Der Angeklagte ist aus Aleppo, lebt aber schon zwanzig Jahre in Budapest, hat einen Secondhandshop und stottert grade eine Eigentumswohnung ab.

Die Staatsanwältin liest die Anklage vor, es sind die vier Seiten, die ich auch bekommen habe. Die Übersetzerin, die während sie spricht pausenlos Kaugummi kaut, übersetzt parallel und der Angeklagte hört schweigend zu und nickt immer wieder nachdrücklich. Alle fallen allmählich in eine Art Trance, da sie den Text kennen und in Kopie vorliegen haben. Der Verteidiger tippt verstohlen unter dem Tisch in sein Smartphone. Es ist 11 Uhr. Ich bin seit zwei Stunden im Gericht und die Wirkung des Schokoriegels beginnt allmählich nachzulassen.

Jetzt erhebt die Staatsanwältin die Stimme und ich schrecke hoch. Sie tut das, weil da ein Satz in Fettdruck steht: „Der Angeklagte wird beschuldigt“ – dann geht es in Normaldruck weiter und sie senkt ihre Stimme wieder.

Sie wollen nicht alle Zeugen – alles Polizeibeamte – hören, da der Angeklagte gestanden hat. Das kommt ganz selten vor, das vereinfacht alles sehr. Ein heikler Punkt sind die anderen Beteiligten: er hatte ja einen Komplizen und eine Komplizin und ab drei Personen ist man eine Bande und das Strafmaß erhöht sich beträchtlich. Er weist die Beteiligung der Frau von sich. Er will kein Mitglied einer Bande sein.

Wir hören die Polizeibeamten, die ermittelt haben. Ein unwahrscheinlich gutaussehender Hauptkommissar sagt aus. 500 Euro kostet eine Schleusung nach Deutschland, 700 Euro nach Belgien. Er beginnt dann aber, sich in Details zu verlieren. Er schildert, wie er einen Geschleusten der Lüge überführt hat, der behauptet hatte, in München eine Arbeit in einem ungarischen Lokal zu bekommen. Er setzte sich mit dem an den PC, ließ ihn googlen und alle Schritte machen, die er – angeblich – gemacht hatte, das Lokal zu finden. Es gibt aber so ein Lokal nicht. Begeistert führte der Kommissar aus, wie sich der Syrer in Lügen verstrickte, die von ihm augenblicklich aufgedeckt worden waren. Schließlich unterbrach ihn der Richter und lenkte ihn zurück zu dem eigentlichen Verfahren.

Wir schließen die Beweisaufnahme, die Staatsanwältin hält ihr Plädoyer. Sie sagt, für das Schleusen gibt es einen Rahmen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren Haft. Sie fasst die Anklagepunkte zusammen und die Übersetzerin hebt ebenfalls entrüstet die Stimme, wenn die Staatsanwältin mit besonderem Nachdruck spricht.
Sie sagt, unsere Kanzlerin hätte zwar gesagt: Kommt’s alle!, aber was sie nie gewollt hat ist, dass Syrer als Schleuser Kapital schlagen aus dem Leid ihrer Landsleute.

Der Verteidiger findet, dass das Geständnis extrem viel wert ist. Er ist sehr groß und scheitert an dem Versuch, sich beim Sprechen mit beiden Händen auf den niedrigen Tisch zu stützen, also verschränkt er die Arme vor der Brust, um sie irgendwo unterzubringen.

Schließlich ziehen wir - das hohe Gericht - uns zur Beratung zurück. Der Richter schaut mich an: "Alles wie besprochen?" und ich nicke. Die andere Schöffin fragt: "Ist die Strafe nicht zu hoch?" Da wird der Richter das erste Mal richtig grantig. Es ist schon blöd: erst verschlafen, dann die Mütze nicht abnehmen und dann nicht Bescheid wissen, was besprochen worden war.
Das alles - die Fluchtbewegungen und die Schleuseraktivitäten - das alles ist einfach furchtbar und übersteigt mein Urteilsvermögen. Da steige ich aus, innerlich, ich kann da nicht mit.