Samstag, 1. Juli 2017

Klaviermeister



Gestern war ich bei den Prüfungskonzerten Meisterklasse Klavier in der Hochschule für Musik. Sie waren im großen Konzertsaal, der schwach befüllt  war. Der schwarze Flügel glänzte auf der leeren Bühne, es war kühl in dem sehr hohen Raum.
Der Programmzettel kündigte für das erste Konzert Scarlatti, Haydn, Ravel und Liszt an, der Student war ein zierlicher Japaner. Er saß lange mit gesenktem Kopf vor dem Instrument, während an den Türen noch rücksichtlose Rentner rumpelten.
Dann begann er zu spielen und das Größenverhältnis von zierlichem Pianist zu dem riesigen, sehr stillen Raum begann sich schnell zu relativieren: mühelos füllte der Flügel die Weite mit Wellen, mit Strudeln, mit Strömen von Musik. Das Tongeflecht verdichtete sich, wurde zerschnitten, zerhackt und in Schichten gelagert. Vermengt zu einem dichten, immer schwerer, immer dunkler werdenden Gestrüpp, das von dünnen Linien  durchschlängelt wurde, die hell aufglänzten, verlöschten, versanken und wieder aufspritzten und Funken sprühten. Ich war ein bisschen fassungslos. Immer atemloser, immer wilder stürmte der junge Spieler über die Tasten, bis der Raum die schiere Masse der Musik kaum noch fassen konnte, dann verstummte er, mit gesenktem Kopf. Dann ein tastender, dunkler Ton wie ein brüchiger Stein, irgendwie fragend. Wieder Stille. Wie ein Stück Würfelzucker kollerte ein allerletzter Ton auf den Boden.


Der zweite Teil brachte Brahms und Chopin, gespielt von einem Hühnen. Er kam herein, verbeugte sich, setzte sich vor den Flügel und begann augenblicklich auf die Tasten zu schlagen. Nach dem - für mein Gefühl - sehr weichen, feinen Spiel seines Vorgängers war dies heftig. Er schien seine Kraft kaum bändigen zu können, die Tasten musstens leiden. Auch der ruhige, zweite Satz kam energisch daher, kein Zögern, keine Brüche, schon drängte sich die Energie wieder herein und forderte, forderte, forderte. Es perlte und trappelte und ratterte - Brahms donnerte vorbei. Dann Chopin, da wurde er ruhiger. Jetzt schwebten die Töne, glitten weicher, aber immer wieder brach sich der Furor Bahn. Der Mann machte Musik zum Tanzen, unsentimental, mitreissend. Ganz selten mal wurde er weich, aber nur kurz, dann entfesselte er gleich wieder einen Weltuntergang oder - aufgang. Am Schluss wollten die Leute nicht aufhören zu klatschen. Rentner!


Den dritten und letzten Teil bestritt eine junge Frau mit Bach, Chopin, Skrjabin und Prokofjew. Sie trug den schönen Vornamen Taisiia und ein schwarzes Kleid, mit ihrem pechschwarzem, zu einem Kranz hochgestecktem Haar und dem bleichem Gesicht sah sie aus wie Schneewittchen. Sie spielte nicht am selben Flügel wie ihre Vorgänger, das Instrument wurde in der Pause ausgetauscht.
Sie verschmolz sogleich mit dem schwarzen Flügel, kaum hatte sie sich hingesetzt. Getragen, würdevoll wiegte sie sich die Bach'schen Notenleitern hinauf und hinunter, öffnete bedächtig Raum für Raum mit Ausblicken ins Lichte, Freie, hinter dünnem Glas, zwischen hohen Säulen und schweren Vorhängen. Dunkle Wolkenberge türmten sich an fernen Horizonten, ließen ahnen, dass da noch mehr ist.
Chopin brachte wieder etwas Aufruhr, aber immer wieder abgemildert durch kleine Perlereien.
Skrjabin war ein Spitzentanz, dazwischen immer wieder schweres Zusammenscharren von Tonfolgen - die dann perlend wieder ausgegossen wurden. Die Pianistin beugte sich tief über die Tastatur und runzelte die Stirn, dann trieb sie wieder versonnen lächelnd die Töne vor sich her wie einen Schwarm kleiner Fische.
Als Letztes Prokofjew - lange bleibt sie still vor dem Instrument sitzen, dann begann sie. Da stieg jemand in einem verlassenen Schloss mit schweren Schritten eine steinerne Treppe hinauf. Feine Staubwolken erhoben sich, etwas huschte ins Dunkel, ein Fenster klirrte. Ganz oben unterm Dach stoben Tauben auf. Weiter und weiter gingen die Schritte, unstet. Niemand war zu sehen. Dann rollten schwere Fässer durch den Keller und ein Räderwerk begann sich zu drehen, zu mahlen. Zwischdurch lief ein Kind durch die leere Eingangshalle und war ganz plötzlich verschwunden. Etwas ging da vor, etwas Unabgeschlossenes. Eiszapfen begannen zu schmelzen und tropften klirrend auf das Blech der Fensterbretter. Wieder dröhnte von ganz tief unten schwere Schläge herauf. Wieder das Trippeln feiner Füßchen. Langsam verstummte der düstere Marsch.

Nächste Woche sind die Prüfungen für Liedgesang und Viola.

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